Unser Garten scheint ein kleines Paradies für Vögel zu sein. Ständig können wir Amseln, Rotkehlchen, Tauben und noch einige andere Arten beobachten, die sich irgendwo was zu futtern suchen oder in der Sonne baden. Naja, jedenfalls solange, bis unser Hund laut bellend einmal kreuz und quer über die Wiese rennt und alles was fliegen kann wieder in höhere Gefilde vertreibt.

Und jetzt, Anfang Juni, sind viele Ästlinge unterwegs. Das sind die kleinen Vögel, die so gerade flügge werden, aber noch nicht alleine klar kommen. Meist können sie auch noch nicht richtig fliegen. Daher sind sie in dieser Zeit ziemlich gefährdet. Unser Hund hat schon ein paar Amselästlinge aufgestöbert, aber zum Glück nicht aufgefressen. Er wurde dann nach drinnen verbannt und wir haben die Kleinen beobachtet, wie sie nach den Eltern gequakt haben und dann gefüttert wurden.

Die Amseln sind ziemlich entspannt, wenn es um die Nähe zu Menschen geht. Bei uns haben sie schon im Schuppen gebrütet, wo wir ständig ein und ausgehen. Außerdem kommen sie recht nah heran und lassen sich nicht direkt aufscheuchen.

Die Dohlen scheinen da anders zu sein. Die sehen wir meist nur aus dem Haus heraus, wenn von uns keiner draußen ist. Gestern allerdings lief ein kleiner Dohlenästling bei uns im Garten herum. Die sehen ziemlich putzig aus, haben noch einen hellen Schnabel (bei den erwachsenen Tieren ist er schwarz) und ein flauschig graues Köpfchen. Ein bisschen kennen wir uns mit Dohlen aus, weil wir vor einigen Jahren mal eine groß gezogen haben. Houdini war aus seinem Nest gefallen, das an einer stark befahrenen Straße lag. Als ich ihn gefunden hatte, ging es ihm nicht besonders gut, aber er hat’s geschafft und wir haben ihn später zur Auswilderung an eine Stelle weiter gegeben, die noch andere Dohlen hatte.

Diese Rabenvögel sind nämlich sehr sozial und sollten eigentlich nie alleine groß gezogen werden, sonst haben sie später keine große Überlebenschance. Seit dieser Zeit weiß ich auch, dass man Ästlinge am besten in Ruhe lassen soll, wenn sie keiner direkten Gefahr ausgeliefert sind. Und beobachten, ob die Eltern sich nicht doch noch kümmern.

So haben wir das gestern auch gemacht. Wir haben dem Kleinen was zu trinken und eine Badestation hingestellt. Essen war da schon etwas schwieriger. Wir sind ein veganer Haushalt und Dohlen brauchen zur Aufzucht fast nur tierische Sachen. Leckere Speisen wie Mehlwürmer oder Heimchen, manche nehmen anscheinend auch Hühnerherzen… Also nichts, was man in unserem Kühlschrank finden würde. Und es war Sonntag, einkaufen ging auch nicht. Also haben wir eine kleine Körner- und Walnussmischung gemacht, damit er was zum Picken hatte. Außerdem haben wir versucht, Abstand zu halten, und als wir gehört haben, dass er sich mit anderen Dohlen unterhalten hat, sind wir ins Haus gegangen (unser Hund war eh schon drinnen eingesperrt und hat alles winselnd vor der Terassentür liegend beobachtet).

Naja, wir waren dann nicht mehr viel draußen. Wir konnten nicht beobachten, ob der kleine Ästling gefüttert wurde, aber wir sind davon ausgegangen, da er noch in Kontakt mit seiner Familie stand. Abends dann war er immer noch im Garten, aber kam uns putzmunter vor. Ist überall nochmal hingelaufen, dann direkt zu uns an die Tür gekommen und wollte rein. Ich habe ihm mit einer Pipette was zu Trinken gegeben, was er auch gerne genommen hatte. Und dann hat er sich in einen Rosmarinbusch gesetzt, Kopf in die Flügel gesteckt und geschlafen.

Da bei uns auch ein paar Katzen rumlaufen, haben wir erst überlegt, ob wir ihn mit rein nehmen. Ein alter Vogelkäfig war noch da. Ich wollte aber erst probieren, ob er vielleicht auch im Baum sitzen bleibt, damit die Dohleneltern noch eine Chance hatten, ihn weiter zu besuchen. Ein bisschen fliegen konnte er schon, nur noch nicht wirklich hoch. Hat auch geklappt, er hat sich auf einen Ast unserer Buche setzen lassen und ist dort wieder eingeschlafen. Gegen 23 Uhr bin ich nochmal raus um zu schauen, da saß er noch oben.

Aber als ich am nächsten Morgen rauskam, lag er tot unter der Buche 🙁 Der Kleine hat es nicht geschafft, und ich mache mir die ganze Zeit Vorwürfe, dass ich nicht genug getan habe. Zum Beispiel nicht noch irgendwie etwas zu essen beschafft habe. Oder ihn nicht in den Käfig gesetzt und drinnen hab übernachten lassen. Und und und. Ich habe nochmal gegoogelt, und irgendwo stand, dass man auch erstmal Banane geben könnte, damit die Vogelkinder wenigstens etwas im Bauch haben. DIE hätten wir wohl gehabt. Und dass es draußen vielleicht zu kalt für den Kleinen war? Ist mir vorher nicht in den Sinn gekommen, denn die Temperaturen sind nicht unter 14 °C gefallen. Für nen kleinen Kerl, der keinen zum Kuscheln hat, war das aber vielleicht doch zu kalt.

Am Schlimmsten find ich die Vorstellung, dass er abends extra zu uns gelaufen kam, weil er irgendwie wusste, dass ihm da jemand helfen könnte. Und wir haben es nicht gemacht. Und dass, obwohl wir doch eigentlich besser informiert gewesen sein müssten, da wir schon einmal ein Dohlenkind aufgepäppelt haben.

Naja, viele Tränen sind geflossen, ich habe den Kleinen zusammen mit meinem Sohn begraben und wir haben uns geschworen, dass wir es das nächste Mal besser machen. Wirklich geholfen hat das aber nicht, die Schuldgefühle gingen nicht weg und die „was wäre wenn“-Schleife drehte sich unendlich weiter in meinem Kopf. Da ich mich auf gar nichts anderes mehr konzentrieren konnte, habe ich irgendwann gegoogelt, wie man Schuldgefühle denn loslassen kann. Und dabei ist mir ein Satz über den Weg gelaufen, der mich angesprochen hat:

„Ich tat das Beste was ich konnte mit dem Wissen, was ich damals hatte.“

Dann musste ich noch ein bisschen argumentieren mit mir, ob das denn wirklich stimmt. Und ich nicht doch das Wissen hatte, aber einfach nicht gehandelt habe. Als ich mich gefragt habe: „Wenn du gewusst hättest, dass er die Nacht nicht übersteht, hättest du dann genau so gehandelt?“ wusste ich aber, dass der Satz zutrifft. Nein, ich hätte natürlich NICHT so gehandelt. Ich hätte ihn mit reingenommen. Ich hätte ihm vielleicht Katzenfutter von unserer Nachbarin gegeben. Nicht geeignet für Vögel, aber es hätte ihn eventuell die eine Nacht überstehen lassen und am nächsten Tag hätte ich besseres Futter besorgen können.

Ich habe ihn draußen gelassen, weil ich dachte dass es besser für ihn ist, wenn wir so wenig wie möglich Kontakt mit ihm haben und seine Familie die Chance hat, ihn weiter zu versorgen. Dass es zu kalt sein könnte, war mir nicht bewusst.

Ich habe ihm kein Katzenfutter gegeben, weil er eigentlich ziemlich fit wirkte und nicht sehr verhungert. Hätte ich das mit der Banane gewusst, hätte ich ihm die gefüttert. Hatte ich aber auch nicht auf dem Schirm. Außerdem hätte ich dann auch ein wenig Angst gehabt, dass die zu klebrig ist und er daran ersticken könnte. Und wenn er DANN morgens tot im Käfig gelegen hätte, hätte ich mir ebenfalls Vorwürfe gemacht.

Mit all diesem Nachdenken und der Wiederholung von „Ich tat das Beste was ich konnte mit dem Wissen, was ich damals hatte“, sind die Schuldgefühle ein wenig besser geworden. Ich wünschte immer noch, dass ich etwas anders gemacht hätte, aber ich mach mich innerlich nicht mehr fertig dafür. Denn ich dachte wirklich, dass ich mit meiner Handelsweise das Beste für den Kleinen mache.

Jetzt weiß, dass das ein Fehler war. Und das ist das Versprechen an den Kleinen: Ich werde ihn nicht vergessen und aus unserer Begegnung lernen: Beim nächsten Mal mache ich das besser.

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